Leseprobe
Karlchen und die Angst
„Samstag ist Müslitag!“, sagte Karlchen und zerkaute genüsslich eine große Mandel. Er tauchte seinen Löffel in seine Frühstücksschüssel und fischte nach einer weiteren Nuss, als es am Fenster klopfte. „Mama, jemand klopft am Fenster!“, rief Karlchen und aß weiter. Mama rührte sich nicht. Sie war einkaufen gegangen. Es klopfte erneut. Karlchen blickte zum Fenster und lies seinen Löffel fallen. Soeben war eine kleine Hand in einem grün geringelten Handschuh vor der Scheibe erschienen. Karlchen sprang auf und lief neugierig zum Fenster. Auf der Wiese vor dem Haus stand ein fahlgesichtiger Junge mit struppigen schwarzen Haaren und winkte ihm zu. Karl betrachtete ihn begeistert. Der Fremde trug einen viel zu großen, kunterbunten, mit Taschen übersäten Anzug. Seine Hände steckten in den merkwürdigen Handschuhen und seine Füße in herrlich gelben Gummistiefeln. Karlchen war kaum noch zu bremsen. Er wollte bereits die Haustüre öffnen, als ihm das Verbot seiner Mutter wieder einfiel. „Karlchen, wenn ich nicht zu Hause bin, darfst du Niemanden die Türe öffnen!“„Aber was ist, wenn du oder Papa oder mein Hase vor der Türe stehen?“, hatte er gefragt. Mama hatte kurz gelacht und dann ganz ernst geschaut.
„Karl, dann darfst du die Türe natürlich aufmachen. Aber fremde Menschen darfst du nicht ins Haus lassen. Und Erwachsene schon zweimal nicht!“
Karlchen ging zurück zum Fenster und blickte sehnsüchtig hinaus. Der fremde Junge stand immer noch auf der Wiese und winkte freudig. Was war zu tun? Mama hatte gesagt, dass er keinen Fremden ins Haus lassen durfte. Sie hatte ihm jedoch nicht verboten, während ihrer Abwesenheit mit anderen Kindern zu spielen. Das war die Lösung! Karlchen holte schnell den kleinen Block, der immer neben dem Telefon lag und malte zwei Jungen auf einer Wiese. Mama konnte prima Malschrift lesen und würde die Nachricht sicher verstehen. Schnell noch in die Gummistiefel gehüpft und ab zur Haustüre. Karl öffnete die Türe nur einen Spalt breit und quetschte sich eilig hindurch. Dann warf er die Haustüre laut krachend ins Schloss. „Sicher ist sicher“, murmelte Karlchen und drehte sich zufrieden um.
Das fremde Kind kam nun auf ihn zu und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. „Endlich, ich dachte du kommst heute überhaupt nicht mehr aus dem Haus!“
„Mama ist nicht zu Hause und ich musste erst überlegen ob du fremd bist und ich mit dir spielen darf!“
„Ja, das ist wichtig“, sagte der Junge und nickte zustimmend. Er war fast einen Kopf kleiner als Karlchen und hatte eine erstaunlich lange Nase. Karl streckte dem Knirps die Hand entgegen. “Hallo, ich bin Karlchen und wer bist du?“
„Hallo, ich bin dein alter Freund Anton.“
„Mein alter Freund?“, fragte Karlchen erstaunt. „Wie soll das gehen, ich hab dich doch noch nie gesehen!“
„Das stimmt, weil ich normalerweise unsichtbar bin.“
„Unsichtbar“, wiederholte Karl grinsend.
„Ja, ich weiß, es klingt ein wenig seltsam. Aber, es ist die Wahrheit. Mein Name ist Anton. Anton Angst und ich bin seit deiner Geburt dein Begleiter. Meine Mutter heißt Antonia Angst und mein Vater Albert. Ich habe viele Brüder und Schwestern und noch mehr Verwandte. Mein Onkel zum Beispiel heißt Sebastian, Sebastian Sorge. Die Schwester meiner Mutter heißt Vorsicht, Veronika Vorsicht. Es gibt die Familie Furcht, die Familie Wachsam, die Tante Umsicht, Vetter Schreck und die Familie Misstrauen. Aber die kann keiner so richtig leiden. Eins haben wir aber alle gemeinsam. Wir sind Aufpasser. Wir begleiten die Menschen und warnen sie vor Gefahren.“
Der Junge stellte sich kerzengerade hin und lächelte stolz. „Ich bin dein Freund und Helfer, Anton Angst.“